Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke auf Jahre hinaus gesichert
Die Unternehmen EnBW, RWE, Veba und Viag haben sich mit der deutschen Bundesregierung am 15. Juni 2000 über die Rahmenbedingungen für den weiteren Betrieb ihrer Kernkraftwerke verständigt.
Für die einzelnen Anlagen wurden Strommengen festgelegt, die rückwirkend ab dem 1. Januar 2000 noch erzeugt werden können. Die Strommengen sind grundsätzlich übertragbar. Für alle deutschen Kernkraftwerke zusammen inklusive Mülheim-Kärlich beträgt die vereinbarte Menge 2'623,30 Terawattstunden (TWh). Das entspricht rechnerisch einer Gesamtlaufzeit von 32 Jahren mit hoher Ausnutzung. RWE erhält für den Verzicht auf die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich und den geltend gemachten Schadenersatzanspruch gegen das Bundesland Rheinland-Pfalz ein auf andere Anlagen des Konzerns zu übertragendes Kontingent von 107,25 TWh. Der 1219-MW-Druckwasserreaktorblock Mülheim-Kärlich ging 1987 in Betrieb und wurde 1988 nach einer Produktion von nur 10 TWh wieder abgestellt, weil die Erste Teilgenehmigung aufgehoben wurde. Gegen eine neue Genehmigung klagten mehrere Gemeinden und Privatpersonen erfolgreich. Grund für die Aufhebung waren formaljuristische Fehler beim Bewilligungsverfahren. Das KKW liegt auf einer Verwerfungslinie zwischen Tuff und Lehm, und mögliche Folgen eines Erdbebens seien nicht gründlich und kritisch genug ermittelt und bewertet worden.
Für die vereinbarten Laufzeiten verpflichtet sich die deutsche Bundesregierung, den ungestörten Betrieb und die Entsorgung der Kernkraftwerke zu gewährleisten. Die wirtschaftlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen wird sie nicht einseitig zu Lasten der Kernenergienutzung verändern. Weiterhin erkennt die Regierung den im internationalen Vergleich hohen Sicherheitsstandard der deutschen Kernkraftwerke und die dahinter stehende Sicherheitsphilosophie an. Sie wird keine Initiative ergreifen, diesen Standard zu ändern. Zur Klärung von Streitfragen wird eine hochrangige Arbeitsgruppe unter Leitung des Chefs des Bundeskanzleramts eingerichtet.
Die Brennelementtransporte werden wieder aufgenommen. Sie werden bis zur Verfügbarkeit standortnaher Zwischenlager und - für die nächsten fünf Jahre - zur Abarbeitung der Wiederaufarbeitungsverträge durchgeführt. Beide Endlagerprojekte Deutschlands werden aufrecht erhalten. Für das Endlager Konrad für schwach- und mittelradioaktive Abfälle wird der Planfeststellungsbeschluss erteilt. Die bisherigen Erkundungen im Endlagerprojekt Gorleben für hochradioaktive Abfälle und abgebrannte Brennelemente haben zu positiven Ergebnissen geführt. Die Bundesregierung beabsichtigt aber, die Erkundungsarbeiten für drei bis zehn Jahre zu unterbrechen. Der Standort wird durch Erlass einer Veränderungssperre gesichert.
Die ausgehandelte Vereinbarung wurde zunächst paraphiert, da sie unter dem Vorbehalt der Zustimmung von Aufsichtsgremien steht. Zudem müssen noch die anderen Eigentümer von Kernkraftwerken zustimmen. Die Regierung wird einen Entwurf für eine Novelle zum Atomgesetz erarbeiten, mit dem die Vereinbarung umgesetzt werden soll. Bevor sich das Bundeskabinett mit diesem Entwurf befasst, werden Unternehmen und Regierung darüber beraten. Über den wesentlichen Inhalt der Novelle wurde Einvernehmen erzielt. Die Unternehmen nehmen zur Kenntnis, dass die Bundesregierung im Atomgesetz den Neubau von Kernkraftwerken verbieten und die Einrichtung standortnaher Zwischenlager vorschreiben will.
Mit der ausgehandelten Vereinbarung gewährleiste die Bundesregierung, dass Betrieb und Entsorgung der Kernkraftwerke in Zukunft nicht durch politisch motivierte Störungen behindert werden. Vor diesem Hintergrund seien die festgelegten Laufzeiten betriebswirtschaftlich vertretbar, erklärten die EnBW, RWE Veba und Viag in einer gemeinsamen Pressemitteilung am 15. Juni. Die mögliche Übertragung von Strommengen gebe ihnen die für eine wirtschaftlich sinnvolle Nutzung der Kraftwerke notwendige Flexibilität. Daher bewerten sie die Vereinbarung als einen vertretbaren Kompromiss. Eine Alternative, mit der sich ein vergleichbarer Schutz ihrer Investitionen erzielen liesse, sehen sie nicht.
Die Vereinbarung über den weiteren Betrieb der Kernkraftwerke kann nach Auffassung der Unternehmen einen umfassenden Energiekonsens nicht ersetzen. Einen solchen Konsens wieder herzustellen, bleibe Aufgabe der Politik. Die Unternehmen seien weiterhin überzeugt, dass die Kernenergie aus ökonomischen und ökologischen Gründen Bestandteil des Energiemixes bleiben sollte.
Den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke auf Jahre hinaus gesichert sieht der Präsident des Deutschen Atomforums und Bayernwerk-Vorstandsvorsitzende Otto Majewski. "Unser erklärtes Ziel, die deutschen Kernkraftwerke zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen weiterhin nutzen zu können, haben wir erreicht." Auch Majewski betonte, dass man das angestrebte Ziel eines Kernenergie-Ausstiegs aus ökologischen wie aus ökonomischen Gründen unverändert für falsch halte. Man habe aber zur Kenntnis zu nehmen, dass die Regierung diese Technologie beenden möchte. Die rot-grüne Bundesregierung wäre durchaus in der Lage gewesen, den Bestand und den Betrieb der deutschen Kernkraftwerke nachhaltig zu beeinträchtigen. Der "ausstiegsorientierte Gesetzesvollzug", wie er in einigen Bundesländern jahrelang praktiziert worden sei, mache dies deutlich. Vor dem Hintergrund politisch motivierter möglicher Beeinträchtigungen sei es im Interesse der Aktionäre, der Mitarbeiter und des Wirtschaftsstandortes Deutschland richtig gewesen, eine derartige Einigung als zweitbeste Lösung zu akzeptieren.
Konsequenz des jetzt Erreichten darf es gemäss Majewski aber nicht sein, dass bereits mittelfristig deutscher durch europäischen Atomstrom ersetzt werde: "Das wäre wieder einmal ein klassisches deutsches Eigentor." Auch der sogenannte Fadenriss bei der Weiterentwicklung der Kernenergie müsse verhindert werden. Kernenergie sei keine Auslaufveranstaltung. Kindern und Enkelkindern müsse die Kernenergieoption, die sie künftig sicherlich bräuchten, erhalten bleiben. Majewski warnte ausdrücklich davor, das Verhandlungsergebnis im Ausland als einen unumkehrbaren Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland zu interpretieren.
Quelle
M.S. nach Pressemitteilung EnBW, RWE Veba und Viag sowie Deutschem Atomforum, 15. Juni 2000
Verwandte Artikel
Gorleben wird weiter erkundet
17. März 2010•NewsILK: Gorleben und Konrad revitalisieren
14. Nov. 2005•NewsArchitekt des deutschen Atomausstiegs prognostiziert Revival der Kernenergie
27. Feb. 2005•NewsKernkraftwerk Mühlheim-Kärlich erhält Stilllegungsgenehmigung
15. Juli 2004•NewsDeutsches Kernkraftwerk Stade endgültig abgestellt
13. Nov. 2003•NewsDrei Jahre Moratorium in Gorleben: Die Uhr tickt
29. Sep. 2003•NewsKernenergie nur durch Kohle und Gas ersetzbar
31. Juli 2000•NewsSinnlose Diskriminierung der Kernenergie durch neue Energieabgaben
30. Juni 2000•NewsDeutscher Atom-Kuhhandel: Theater und Realismus unter einem Hut
14. Juni 2000•News