Über die Tragödie in Japan und ihre Nachrichtenfaktoren
Kommunikationsfachleute sind dabei, die Katastrophen in Japan und die Art der Berichterstattung aufzuarbeiten und zu reflektieren. Analysen über die Medienresonanz und die Aufmerksamkeit des Publikums bringen Erstaunliches zutage: Sie lassen sich nicht allein mit den herkömmlichen Nachrichtenfaktoren erklären.
Nachrichtenfaktoren dienen als Entscheidungshilfe, ob und wie gross ein Ereignis in die Medien kommt. Zu solchen News Values gehören Relevanz beziehungsweise Folgenschwere, Neuheit beziehungsweise Abweichung von der Normalität, Betroffenheit beziehungsweise geografische Nähe, Dramatik, Prominenz und so fort. Gatekeepers wie Redaktoren, Blattmacher und Chefredaktoren beurteilen jeden Tag mehrmals von Neuem die Nachrichtenlage. Dabei ist einerseits Bauchgefühl im Spiel. Andererseits bringen nur die wenigsten Entscheidungsträger den Mut auf, sich gegen den Mainstream zu stemmen. Sie orientieren sich an den Leitmedien.
Das Fernsehen als Leitmedium
Mehr denn je gehört heute das Fernsehen – trotz Internetzeitalter – zu diesen Leitmedien. Weil innerhalb eines TV-Programms der Raum für (gesprochene) Texte knapp bemessen ist (die Abschrift der «Tagesschau» hätte auf einer Zeitungsseite Platz), erhalten die Bilder und die Absender der Botschaften ein viel stärkeres Gewicht. Das Fernsehen ist nicht nur ein multimediales, es ist ein emotionales Medium. Dadurch lassen sich Katastrophen wie jene von Japan «hautnah transportieren». Der knappe Raum für sprachliche Botschaften fördert den Hang zum Trichter-Phänomen, zur extremen Fokussierung. Ähnlich wie Boulevardblätter geraten Sendeleiter auch von öffentlich-rechtlichen Programmen in die Versuchung, viele Ressourcen in nur ein Ereignis zu investieren. Das führt beim Publikum zu einem noch grösseren Informationsbedürfnis, das wiederum mit mehr Medienkonsum gestillt wird. Das Problem dieser Dramatisierung: Schnell sind Macher und Publikum übersättigt. Die hohe Aufmerksamkeit schlägt sich in pures Desinteresse um.
Ernüchterung auch auf Seiten der Medienmacher
Am Ende hat der interessierte Bürger oft das Gefühl, kaum mehr zu wissen als vorher. Er verliert die Orientierung und müsste eigentlich eingestehen, dass er von den Medien bloss «unterhalten» worden ist. Auch bei den Redaktoren ist zuweilen die Ernüchterung gross. Die Journalistin Verena Schmitt-Roschmann von der Nachrichtenagentur dapd Nachrichtenagentur in Berlin zur Frage, ob die Reaktorkatastrophe die Aufmerksamkeit für Umweltthemen allgemein erhöht habe: «Eher umgekehrt. Alles wird überstrahlt von der Fragestellung Atomkraft und alternative Energien. Das Thema Naturschutz findet kaum noch statt.»
«Das Unglück wurde für Machtspiele benutzt»
Deutliche Worte fand Roland Tichy, Chefredaktor der «Wirtschaftswoche»: «Ich stelle fest, dass eine andere Art von Wirtschaftsberichterstattung im Gang ist. Wir bewegen uns in einem Illusionstheater, in dem Behauptungen als Fakten genommen werden, wenn sie ökologisch korrekt klingen.» Auch die Berichterstattung über Fukushima sei weniger von Faktoren als von Emotionen getrieben gewesen, meinte Tichy gegenüber dem Fachblatt «Wirtschaftsjournalist». Tichy weiter: «Wir müssten ernsthaft über ökologische Fragestellungen diskutieren. Bei Fukushima handelte es sich zunächst einmal um eine Naturkatastrophe. Das Unglück wurde auch dazu benutzt, um innenpolitische Machtspiele zu betreiben. In anderen europäischen Ländern wurden die deutschen Reaktionen als etwas seltsam empfunden.» Das Problem sei vor und nach Fukushima, dass die erneuerbaren Energien nicht «liefern» würden. Die Bedenken bezüglich Preis und Rahmenbedingungen würden von der veröffentlichten Meinung vielfach nicht wahrgenommen. Auch die Frage der politischen Durchsetzbarkeit von Stromstrassen für erneuerbare Energien würde gerne unterschätzt. Tichy: «Unter dem Strich steht dann ein De-facto-Einstieg in die Kohle- und Gaskraftwerke, wobei deren schädliche Emissionen dramatisch schöngeredet werden.»
Bürger suchen sehr wohl Orientierung
Es gibt durchaus Medien, die Substantielles hinsichtlich der Einordnung der Ereignisse in Japan geleistet haben. Auch gibt es Bürger, die in solchen Krisen Orientierung von Medien wünschen, die vertieft, ausgewogen und unvoreingenommen berichten. Diese Medienkonsumenten wenden sich glaubwürdigen Medien zu. Nach dem 11. März 2011 wurden die Websites der «Neuen Zürcher Zeitung NZZ» doppelt so häufig aufgerufen wie in der Vorwoche. Bei «Tages-Anzeiger» und «20min online» betrug das Plus rund 30%; «Blick online» konnte hingegen keine signifikante Steigerungsrate ausweisen.
Die Redaktoren der «NZZ» versuchen ein differenziertes Bild zu vermitteln. Anfang April erschien das Magazin «NZZ Folio» mit dem Thema «Atomkraft». Das Besondere daran war: Der Termin des Themenschwerpunktes stand bereits vor der Fukushima-Katastrophe fest. «Persoenlich.com», das Online-Portal der Schweizer Kommunikationswirtschaft, hatte Reto U. Schneider, den stellvertretenden Redaktionsleiter des «NZZ Folio», dazu befragt. Wurde im Vorfeld innerhalb der Redaktion die Haltung zur Kernenergie definiert? Dazu Schneider: «Nein, unser Ziel war von Anfang an, den Lesern eine möglichst fundierte Basis für eine eigene Entscheidung zu liefen. Für ein klares Pro oder Contra schien uns die Sache zu komplex.»
«Man kommt schon ins Grübeln»
Wie hat sich die Haltung der NZZ-Redaktion durch die Katastrophe in Japan geändert? Dazu Schneider: «Ich kann nicht für die ganze Redaktion sprechen. Ich persönlich finde die Sache immer noch kompliziert, vielleicht auch, weil mir die Arbeit an diesem Folio die Sicht auf die ganze Welt eröffnet hat. In westlichen Industriestaaten werden wir vielleicht irgendwie ohne Atomstrom auskommen können, obwohl auch das schwierig werden wird. Aber wenn man sich den Energiebedarf von China vergegenwärtigt und an die Tausenden von Kumpels denkt, die von den Medien unbeachtet jedes Jahr im Kohlebergbau unter Tag sterben – ganz zu schweigen von den Folgen für das Klima – kommt man schon ins Grübeln.»
Angst-Kultur in deutschsprachig dominierten Ländern
Die eingangs erwähnten Nachrichtenfaktoren würden erwarten lassen, dass die Länder im asiatischen Raum aufgrund der geografischen Nähe viel intensiver über die Ereignisse in Japan berichten als andere Regionen. Entsprechend müsste auch das Interesse der Menschen in Asien an Fukushima höher sein. Die Auswertung der globalen Suchanfragen auf «Google» zeigt teilweise tatsächlich einen solchen Zusammenhang (siehe Abbildung): Menschen aus benachbarten Ländern wie China, Taiwan und Russland waren stärker an Fukushima interessiert als Medienkonsumenten in Australien, Afrika, Nord- und Südamerika.
Allerdings gibt es gewichtige Ausnahmen von dieser Regel: Westeuropa zeigt ebenfalls eine hohe Betroffenheit (abgesehen von Grossbritannien und Portugal). Das höchste Interesse für Fukushima weist ausserhalb von Japan Deutschland auf (100 Indexpunkte). Danach folgen Österreich (88 Punkte), die Schweiz (71 Punkte), China (67 Punkte), Russland (60 Punkte), Italien (47 Punkte), Frankreich (43 Punkte), die Ukraine (41 Punkte), Singapur (38 Punkte) sowie Hongkong (37 Punkte). Die sehr hohen Werte der deutschsprachigen Länder machen deutlich, dass es sich um einen spezifischen kulturellen Hintergrund handeln muss – die rudimentär auch mit «Angst-Kultur» umschrieben werden kann. Diese Begründung ist auch deshalb naheliegend, da sich strukturell die Länder Deutschland, Österreich und Schweiz durchaus unterscheiden. Schliesslich stehen in Österreich keine Kernkraftwerke.
Quelle
Hans Peter Arnold