Stewart Brand über Umwelthäretiker
«Meine Voraussage ist, dass der Hauptharst der Umweltbewegung in den kommenden zehn Jahren seine Meinung und seine Aktionen auf vier Gebieten umkehren wird: Bevölkerungswachstum, Verstädterung, Genorganismen und Kernenergie.»
Mit diesen Worten leitet Stewart Brand eine Kolumne in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Technology Revue ein, die das Massachusetts Institute of Technology (MIT) herausgibt. Unter dem Titel «Umwelthäresie» provoziert der 1938 in den USA geborene Biologe, Publizist und Begründer von «The Whole Earth Catalogue» einmal mehr seine Leser. Lebhafte Reaktionen auf dem Internetforum der Zeitschrift Hessen denn auch nicht auf sich warten.
Stewart Brand sieht zwei starke Elemente in der Umweltbewegung, deren Zusammenwirken ihren Erfolg erklärt, Romantik und Wissenschaft: Die Romantiker identifizieren sich mit der Natur, rebellieren als Moralisten gegen die herrschenden Kräfte, bekämpfen jedes Abweichen vom wahren Weg, können Fehler nicht zugeben und widersetzen sich jeder Richtungsänderung, während die Wissenschafter die Natur untersuchen, sich jedem Paradigma widersetzen und sich gegenseitig bekämpfen. Das Eingestehen von Fehlern sei das, was für sie die Wissenschaft ausmache, unterstreicht Brand. Zum Glück gebe es in der Bewegung viel mehr Romantiker als Wissenschafter, denn so könnten sich die meisten Menschen in den entwickelten Gesellschaften als Umweltschützer verstehen. Damit sei aber der wissenschaftliche Standpunkt stets ein Minderheitsstandpunkt - leicht zu übersehen, zu unterdrücken und zu dämonisieren, wenn er nicht in den Konsens passte.
Unter allen Umweltproblemen wiegt für Stewart Brand die globale Klimaänderung am schwersten. Sie lasse sich verhindern, so weit die Menschheit sie durch die Verbrennung fossiler Energien mit verursacht: «Daher ist alles zu unternehmen, um die Energieeffizienz zu verbessern und die Energieversorgung zu dekarbonisieren.» Alle sich bietenden Mittel, die auf mehr als nur einer Hoffnung beruhen, sind für Brand recht. Doch er kommt zum Schluss: «Die einzige Technologie, die bereitsteht, die Lücke zu füllen und das Aufladen der Atmosphäre mit Kohlendioxid zu stoppen, ist die Kernenergie.» Brand räumt ein, dass die Kernenergie nicht problemfrei ist - Unfälle, Abfalllagerung, hohe Baukosten und möglicher Missbrauch von Kernmaterial für Waffen. Doch zusätzlich zum überragenden Beitrag an die Reinhaltung der Atmosphäre weist sie für Brand auch Vorteile auf: Dank einem halben Jahrhundert Erfahrung ist sie industriell reif, problematische Reaktoren aus der Frühzeit lassen sich durch neue, unfallsichere ersetzen und der Brennstoff ist billig. Auch öffne die Kernenergie den besten Weg hin zur Wasserstoff Wirtschaft. Die Abfalllagerung sei ein überwindbares Problem, und es wäre klug, dafür zentrale Lösungen zu treffen. Brand schlägt vor, den ganzen Brennstoffkreislauf global zu organisieren.
«Die Umweltbewegung hat eine quasi religiöse Aversion gegen die Kernenergie», stellt Stewart Brand fest. Über die wenigen prominenten Umweltexperten, die sich für die Kernenergie aussprachen - James Lovelock, Patrick Moore und Hugh Montefiori -, hätten die anderen Umweltschützer einen Bannfluch verhängt. Die erwartete öffentliche Debatte sei ausgeblieben. Zwei Richtungen könne die Kernenergie nehmen: Zum grössten Schaden für die Gesundheit der Atmosphäre würde ein weiteres Tschernobyl aus der Kernenergie ein ewiges Tabu machen oder eine neue und bessere Kerntechnik verhelfe ihr zum Durchbruch.
«In der Umweltbewegung bilden die Wissenschafter die radikale Minderheit, die den Weg weist», fährt Brand fort, und er ruft diese Minderheit auf, noch radikaler zu werden und ihre Führungsverantwortung beim Klimaschutz wahrzunehmen. Denn, so schliesst er seine Kolumne, «die Romantiker haben nach allem doch Recht: Wir sind ein untrennbarer Bestandteil der natürlichen Systeme unserer Erde.»
Quelle
P.B. nach Technology Review - An MIT Enterprise, Ausgabe Mai 2005