SGK-Studienreise nach Tschernobyl
Delegationen der Young-Generation (YG) und der Schweizerischen Gesellschaft der Kernfachleute (SGK) haben im Mai beziehungsweise September 2011 Studienreisen zum stillgelegten ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl unternommen, dessen Block 4 vor 25 Jahren explodiert ist. Die Teilnehmenden konnten sich vor Ort ein Bild vom heutigen Zustand machen.
Als die Idee einer Exkursion in die Sperrzone und das stillgelegte Kernkraftwerk von Tschernobyl aufkam, machten sich die Organisatoren beider Delegationen noch keine Vorstellung von den kommunikativen und organisatorischen Herausforderungen. Ein direkter Kontakt zum Kernkraftwerk erwies sich als überaus hilfreich, insbesondere wenn man der russischen oder ukrainischen Schrift und Sprache nicht mächtig ist. Da das Klima in der Ukraine kontinental geprägt ist und die Temperaturen in den Winter- und Sommermonaten weit ausschlagen können, entschied sich die YG ihre Reise gegen Ende Mai durchzuführen. Die SGK-Gruppe machte sich Anfang September 2011 auf den Weg in die Ukraine.
Kiew im Umbruch
Kiew, die ehemalige Sowjetmetropole und nun Hauptstadt der Ukraine, präsentierte sich positiver als erwartet. Sie ist eine Stadt mit Grünflächen, die Häuserfassaden sind herausgeputzt und viele junge Menschen säumen die Strassen. Die eine oder andere Statue zeugt noch von der sowjetischen Vergangenheit. Das Stadtzentrum der 2,8-Millionen-Stadt bereitet sich auf die anstehende Fussball-Europameisterschaft EURO2012 vor, die zusammen mit Polen ausgetragen wird. Davon zeugen auch die Bauarbeiten an einem neuen Terminal am Flughafen Kiew-Borispol. Im Kontrast zu den herausgeputzten Fassaden der Innenstadt lassen hingegen die schäbig wirkenden Wohnblöcke am Stadtrand auf die Armut im Land schliessen. Das durchschnittliche Monatseinkommen im flächenmässig grössten Land Europas nach Russland beträgt umgerechnet CHF 200–300.
Busfahrt zum Kernkraftwerk
Das Dorf Tschernobyl und das gleichnamige Kernkraftwerk liegen rund 100 km nördlich von Kiew an der Grenze zu Weissrussland. Die Busfahrt dorthin dauert rund zweieinhalb Stunden. Es ist jedoch zu beachten, dass der an Werktagen allgegenwärtige Verkehrsstau in Kiew zu Verzögerungen führen kann.
Nach eineinhalb Stunden Busfahrt erreichten wir den ersten Checkpoint, der den Beginn der 30-km-Zone markiert. Soldaten überprüften die Reisedokumente und Pässe. Ohne gültige Dokumente ist der Zutritt in die Sperrzone verwehrt, und im Kraftwerk sind nur «technische Führungen» erlaubt. In dieser Zone ist das Wohnen seit 25 Jahren untersagt. Seit einiger Zeit siedeln dennoch ältere Leute in dieses Gebiet zurück, was von den Behörden toleriert wird. Um der illegalen Rücksiedelung aber entgegenzuwirken, wurden aber die meisten Siedlungen und Dörfer in der Sperrzone abgerissen.
Nach weiteren 20 km gelangten wir zum Dorf Tschernobyl. Hier wohnen noch rund 150 Personen, die im Kernkraftwerk arbeiten und deshalb eine Sonderbewilligung besitzen. Der Grossteil der aktuell 3000 Kernkraftwerksmitarbeiter wohnt im 50 km östlich gelegenen Slawutitsch. Die Ortschaft wurde nach dem Reaktorunfall neu erbaut, um den Einwohnern der evakuierten Stadt Prypjat eine neue Heimat anzubieten. Eine Bahnlinie, die für wenige Kilometer über weissrussisches Gebiet führt, verbindet Slawutitsch mit dem Kernkraftwerk.
Neue Strassen und Bauruinen
Kurz nach Verlassen der Ortschaft Tschernobyl wurden wir erneut kontrolliert. Die innere Sperrzone markiert einen Umkreis von 10 km um das Kernkraftwerk. Diese Zone ist unbewohnt und die Angestellten des Kraftwerks müssen sie jeden Tag nach der Arbeit verlassen. Der Busfahrer muss bei der Weiterfahrt immer wieder Baufahrzeugen ausweichen, die die Strasse neu teeren. Bei der Einfahrt zum Kraftwerksareal passierten wir die unvollendeten Einheiten 5 und 6, deren Bau nach dem Unfall Ende April 1986 abrupt eingestellt wurde. Rostende Baugerüste und -kräne sowie die zwei unvollendeten Kühltürme komplettieren das surreale Bild dieser Bauruinen.
Dank direkter Kontakte zum Kernkraftwerkspersonal ist es beiden Gruppen gelungen, eine Bewilligung für den Zutritt ins Kernkraftwerk zu erhalten. So konnte sich die YG- und die SGK-Gruppe ein Bild von der Einrichtung eines Kontrollraumes machen. Mit Hilfe eines Übersetzers erklärten Techniker die Funktion der Armaturen und Anzeigen. Im Verwaltungsgebäude stellte uns der stellvertretende Kraftwerksdirektor, Walery Seida, anhand eines Modells die gesamte Kraftwerksanlage vor und informierte über den Stand der Rückbauarbeiten. Er erklärte, dass nach dem Reaktorunfall vom April 1986 im Block 4 die drei restlichen Einheiten für über USD 200 Mio. (CHF 180 Mio.) nachgerüstet und weiterbetrieben wurden. Vier Jahre später wurde Block 2 als erster endgültig vom Netz genommen. Es folgte Block 1 1996 und weitere vier Jahre später, im Dezember 2000, schliesslich Block 3. Mittlerweile seien rund 60% der Systeme abgeschaltet. Der Reaktor von Block 3 ist bereits vollständig entladen und der ausgediente Brennstoff in ein Nasslager überführt worden. Später werden die rund 11 m langen Brennelemente in kleinere Stücke zerlegt und nach weiteren Konditionierungsschritten in Lagerbehälter verpackt, um dann in einem Lagergebäude oberirdisch eingelagert zu werden. Die Konditionierungsanlage soll kurz vor der Inbetriebnahme stehen. Während die YG bei Ihrem Besuch die Lagereinrichtung besichtigte, begab sich die SGK-Gruppe in die rund 800 m lange Turbinenhalle, wo die Dampfturbinen aller Einheiten untergebracht sind. Heute ist einzig die Turbine der zerstörten Einheit 4 vom Rest der Halle getrennt. Die Rückbauarbeiten sind hier weniger weit fortgeschritten. Immer noch mächtig präsentieren sich die Niederdruckturbinen in der endlos wirkenden Halle.
Strahlenbelastung
Wer eine Reise zum Kernkraftwerk Tschernobyl unternommen und die angrenzende Stadt Prypjat besucht hat, wird unweigerlich mit der Frage der Strahlenbelastung konfrontiert. Für Fachleute wenig überraschend haben die Messungen beider Gruppen ergeben, dass die Reiseteilnehmenden beim rund dreistündigen Flug von Zürich nach Kiew eine rund zwei- bis dreimal höhere Dosis akkumuliert haben als beim gleich langen Besuch im Kraftwerk und in Prypjat.
Die Ortsdosisleistungen der ausschliesslich auf Gammastrahlung reagierenden Messgeräte hatten beim Besuch grosse Schwankungen zu Tage gebracht. Während im Kontrollraum des Blocks 1 Werte um 0,15 µSv/h gemessen wurden, zeigten die Instrumente beim Denkmal – 200 m vom Sarkophag entfernt – Ortsdosisleistungen von 4 bis max. 8 µSv/h an. Ein Kraftwerksangestellter, der während 250 Tagen pro Jahr und acht Stunden pro Tag arbeitet, würde an dieser Stelle eine jährliche Dosis von 8 bis 16 mSv aufnehmen. Zum Vergleich: der Dosisgrenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen beträgt in der Schweiz 20 mSv im Jahr. Zu bemerken ist, dass an weiteren Messpunkten rund um das Denkmal und im nebenstehenden Besucherzentrum auch deutlich tiefere Werte gemessen wurden.
Am dritten Reisetag stand für beide Gruppen die Besichtigung von Kiew auf dem Programm. Wer mochte, konnte das Tschernobylmuseum unweit des Flusses Dnepr besuchen. Das Museum ist eine Mischung aus Reliquiensammlung und Dokumentation zum Unfallgeschehen. Nach den Ereignissen in Japan wurde im Museum eine Solidaritätstafel mit Widmungen in ukrainischer sowie japanischer Sprache aufgestellt.
Steckbrief zur Ukraine
Die Ukraine zählt rund 45 Mio. Einwohner. Gemessen an der Bevölkerungszahl liegt das Land nach Russland, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Spanien und Italien an siebter Stelle in Europa. Die Einwohnerzahl ist seit Anfang der 1990er-Jahre rückläufig. In der Ukraine leben rund 78% Ukrainer und knapp jeder fünfte ist Russe. Im Land wird hauptsächlich Ukrainisch (67%) und Russisch (24%) gesprochen. Die Landeswährung ist die Hrywnja.
Die Ukraine betreibt heute an vier Standorten 15 Kernkraftwerkseinheiten. Von den im Jahr 2010 produzierten 174 TWh Strom stammten knapp 50% (83 TWh) aus Kernenergie.
Quelle
Matthias Horvath und Dragoslav Tanic, SGK/M.B.