Kernenergie in Deutschland: neue Regierung stellt Weichen um
Unmittelbar nach dem Sieg der FDP bei den Bundestagswahlen am 27. September 2009 sind die Aktienkurse der grossen Energiekonzerne E.On, RWE und EnBW in die Höhe geschnellt. Bereits Wochen zuvor kletterten die Valoren – allen voran EnBW –, als sich die Wahlschlappe der SPD abzuzeichnen begann. Die SPD hatte zusammen mit den Grünen 1998 den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen und zwei Jahre später in einem Abkommen mit der Industrie eingeleitet.
Die neue Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP misst dem Atomstrom eine höhere Relevanz zu. Konkret bedeutet dies: Die Laufzeiten der 17 Kernkraftwerke in Deutschland, die 25% des Strombedarfs decken, dürften verlängert bzw. nicht verkürzt werden – je nach Perspektive. E.On, RWE, EnBW und Vattenfall betreiben derzeit Reaktoren. Die jüngste Kehrtwende kommt einem Tabubruch gleich. Ein weiteres Tabu bleibt freilich (noch) bestehen: Der Bau neuer Kernkraftwerke wird nicht thematisiert. Übrigens: 2008 wurden rund 29% des Stroms in unserem Nachbarland in deutschen Kernkraftwerken erzeugt.
Fakt ist auch: Am Tag 1 nach dem Wahltag sind die Aktienkurse aus der Branche der Solar- und Wind-Energie gesunken. Solarworld ist fast 5% eingebrochen. Q-Cells und SMA Solar erlitten ebenfalls erhebliche Verluste. Ein ähnliches Bild bei Nordex, dem Anbieter von Generatoren für Windkraftwerke. FDP-Spitzenpolitiker Guido Westerwelle will die Subventionen – auch für erneuerbare Energien – rasch und erheblich reduzieren. An sich ist eine solche Politik nicht überraschend: Schliesslich bestand von Beginn weg die Absicht, die Einspeisevergütung für alternative Energiequellen zeitlich zu beschränken. Im Jahr 2008 gab die Bundesregierung umgerechnet CHF 3,3 Mrd. für die Solarstromförderung aus. Im Übrigen sind die Herstellerkosten für Fotovoltaik-Anlagen in den vergangenen drei Jahren um ein Drittel gesunken. Allerdings müssen nicht nur die reinen Solar- und Windenergie-Unternehmen mit tieferen Subventionen rechnen. Auch grossen Konzerne wie E.On, welche hohe Investitionen im Bereich der erneuerbaren Energien tätigen, werden davon betroffen.
Die Aktionäre relativieren insofern die Vorgänge in Deutschland, als die Konzerne international aktiv sind. Das gilt beispielsweise für E.On und RWE, welche an den britischen KKW-Neubauprojekten partizipieren wollen und deshalb ein Joint-Venture gegründet haben. Das gilt aber auch für globalisierte Kraftwerk-Zulieferer wie Siemens.
Die Sicht von Angela Merkel
Wie sieht die Energiepolitik der künftigen schwarz-gelben Regierung aus? Eine Standortbestimmung gab Bundeskanzlerin Angela Merkel am 1. Juli 2009 anlässlich des 50. Geburtstages des Deutschen Atomforums in Berlin. Sie hielt in ihrer Rede fest, dass Kernenergie einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgung liefere. Bis zum Jahr 2020 soll neben einem sich auf 30% erhöhenden Anteil von Strom aus erneuerbaren Energien die verbleibenden 70% des benötigten Stromes auch durch Kernenergie gedeckt werden. Merkel erklärte weiter «Die Quellen der Energieversorgung werden sich im Laufe der Zeit verändern. Aber ich glaube, besonders wenn ich sie mir weltweit anschaue, dass die Kernenergie für eine überschaubare Zeit lang eine Perspektive hat. Deutschland steht es gut an, bei dieser technisch ausserordentlich anspruchsvollen Energieerzeugung einen Beitrag zu dieser Entwicklung auch für die absehbare Zukunft zu leisten.» Wir sollten uns bewusst sein, dass wir heute in einer Zeit der Verknappung leben. In vielen Ländern finde daher ein Umdenken in Bezug auf die Kernenergie statt; «ob das zum Beispiel in Schweden ist, wo man die Sache sehr interessant gelöst hat – man ist öffentlich ausgestiegen, hat anschliessend die Kernkraftwerke nachgerüstet und modernisiert und hat dann einfach weitergemacht – oder ob es sich um Länder wie Italien und andere handelt.
Die Physikerin und Doktorin der Chemie sorgt sich um den Industriestandort Deutschland: «Ich persönlich mache mir grosse Sorgen, was passiert, wenn Deutschland eines Tages aus diesem Bereich ausgestiegen sein sollte, was ich nicht will; ich will die Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke, und zwar auf dem besten technischen Niveau. Ich mache mir allergrösste Sorgen, dass dann eine wichtige Stimme für mehr Sicherheit bei der Produktion von Kernenergie in der Welt entfallen würde.»
Schliesslich äussert sich Merkel zum Energiemix: «Jede Art der Energieerzeugung hat ihre Nachteile. Deswegen haben wir uns in Deutschland auch immer für einen Energiemix eingesetzt. (...) Ich will, dass Deutschland ein zukunftsfähiges Land bleibt. Dazu gehört für mich auf absehbare Zeit auch Kernenergie – sowohl im Hinblick auf den Export als auch als Brückenenergieträger in die Zukunft.»
Die Sicht der FDP
Das Wahlprogramm der FDP äusserte sich zur Nuklearenergie wie folgt: «Der Ausstieg aus der Kernenergie ist zum jetzigen Zeitpunkt ökonomisch und ökologisch falsch. Wir brauchen die Kernenergie als Übergangstechnologie, bis erneuerbare Energien in ausreichendem Umfang grundlastfähigen Strom erzeugen können oder die CO2-Abscheidung und -Einlagerung für Kohlekraftwerke im grosstechnischen Massstab zur Verfügung steht.» Die Laufzeiten sicherer Kernkraftwerke müssten daher in diesem Sinne verlängert werden. Im Gegenzug müssten sich die Kernkraftwerksbetreiber dazu bereit erklären, einen Teil der finanziellen Vorteile an eine zu gründende «Deutsche Stiftung Energieforschung» abzuführen. Die Erträge der Stiftung sollten zur Forschung an innovativen Energietechnologien eingesetzt werden. Dabei seien vorrangig Speichertechnologien für erneuerbare Energien zu erforschen.
Die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke müsse auch weiterhin auf höchstem Niveau sichergestellt und fortentwickelt werden. Dies gelte insbesondere auch für das Sicherheitsmanagement und die Sicherheitskultur in den Anlagen. Absehbaren Personalproblemen bei der Atomaufsicht sei entgegenzuwirken. Die FDP fordert: «Der europäische Kommunikationsfluss muss präventiv und bei besonderen Vorkommnissen verbessert werden.»
Was steht im Koalitionsvertrag?
Die ähnlichen Positionen von CDU/CSU und FDP hätten an sich bei den Koalitionsgesprächen zu keinen grösseren Auseinandersetzungen führen sollen. Allerdings drang durch, dass Angela Merkel den Entscheid über die Laufzeitenverlängerung aufschieben wollte. Davon ist im Vertrag jedoch nicht die Rede; die Gespräche mit den Kraftwerkbetreibern soll «möglichst rasch» aufgenommen werden. Allerdings ist die Gewinnabschöpfung höher ausgefallen als allgemein erwartet. Die dank der Verlängerung generierten Mehreinnahmen werden nun von den Behören um mindestens 51% («der wesentliche Teil») abgeschöpft.
Dies sind die wichtigsten Elemente aus der Koalitionsvereinbarung vom 26. Oktober 2009 hinsichtlich Energie- bzw. Kernenergie-Politik:
«Der wesentliche Teil der zusätzlich generierten Gewinne aus der Laufzeitverlängerung der Kernenergie soll von der öffentlichen Hand vereinnahmt werden. Mit diesen Einnahmen wollen wir auch eine zukunftsfähige und nachhaltige Energieversorgung und -nutzung, beispielsweise die Erforschung von Speichertechnologien für erneuerbare Energien, oder stärkere Energieeffizienz fördern. Der Klimaschutz ist weltweit die herausragende umweltpolitische Herausforderung unserer Zeit.»
Der Vertrag äussert sich zum Energiemix wie folgt: «Wir wollen eine ideologiefreie, technologieoffene und marktorientierte Energiepolitik. Diese umfasst alle Nutzungspfade (Strom, Wärme, Mobilität).» Die Regierung werde spätestens innerhalb des nächsten Jahres ein neues Energiekonzept vorlegen, das szenarienbezogen Leitlinien für eine saubere, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung formuliert.
Die erneuerbaren Energien soll konsequent ausgebaut und die Energieeffizienz weiter erhöht werden. Der weltweite Energieverbrauch werde in den nächsten Jahren drastisch zunehmen. «Daher wollen wir durch marktorientierte und technologieoffene Rahmenbedingungen, die stärker auf Anreiz und Verbraucherinformation und weniger auf Zwang setzen, die enormen Potentiale im Bereich Energieeffizienz heben.»
Die Kernenergie sei eine «Brückentechnologie», bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden könne. «Andernfalls werden wir unseren Klimaziele erträgliche Energiepreise und weniger Abhängigkeit vom Ausland, nicht erreichen.» Und weiter hält der Koalitionsvertrag fest: «Dazu sind wir bereit, die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern. Das Neubauverbot im Atomgesetz bleibt bestehen.» In einer möglichst schnell zu erzielenden Vereinbarung mit den Betreibern würden zu den Voraussetzungen einer Laufzeitverlängerung nähere Regelungen getroffen: unter anderem Betriebszeiten der Kraftwerke, Sicherheitsniveau, Höhe und Zeitpunkt eines Vorteilsausgleichs, Mittelverwendung zur Erforschung vor allem von erneuerbaren Energien, insbesondere von Speichertechnologien. Die Vereinbarung müsse für alle Beteiligten Planungssicherheit gewährleisten.
Die Sicht der Kernkraftwerkbetreiber
«Wir begrüssen die Bereitschaft der Politik, die Laufzeiten für die deutschen Kernkraftwerke zu verlängern», sagte Dirk Ommeln, Konzernsprecher EnBW Energie Baden-Württemberg, gegenüber dem Nuklearforums Schweiz. Details der Ausgestaltung einer Laufzeitverlängerung würden in Gesprächen mit der Politik zu klären sein. Ommeln weiter: «Wir sehen diesen Gesprächen offen und konstruktiv entgegen. Die EnBW hat immer betont, dass ein zukunftsfähiger Energiemix auch ein ausgewogener Energiemix sein muss, der alle Erzeugungsarten – von der Kernenergie über die konventionelle Erzeugung bis zu den erneuerbaren Energien – berücksichtigt.»
Unmittelbar nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrag hat das Deutsche Atomforum die «Neubewertung der Kernenergie» positiv kommentiert: «Das Deutsche Atomforum begrüsst die Bereitschaft von CDU/CSU und FDP, die Laufzeiten für die deutschen Kernkraftwerke als Brückentechnologie zu verlängern. Der eingeschlagene Weg – erneuerbare Energien zu stärken und die Laufzeiten zu verlängern – ermöglicht die Gestaltung einer zukunftsweisenden Energieversorgung unseres Landes.» Die Neubewertung der Kernenergie sei für den Standort Deutschland aus Gründen des Klimaschutzes, der Versorgungssicherheit und der Wirtschaftlichkeit dringend erforderlich.
Die Sicht der Analysten
Die Höherbewertung von E.On, RWE und EnBW an der Börse wurde von den Bankanalysten mehrheitlich auf den Sieg von Schwarz-Gelb und die absehbare Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke zurückgeführt. «Wir erwarten, dass RWE von einer potenziellen Laufzeitausdehnung bei einer grossen Anzahl von Atomkraftwerken in Deutschland profitieren wird», schreibt Analystin Tanja Markloff, Analystin der Commerzbank. Aufhorchen liess ein Studie von WestLB: Demnach könnte allein E.On im Zuge der Laufzeitenverlängerung Zusatzeinnahmen von EUR 8,6 Mrd. (CHF 13 Mrd.) generieren. Davon würden mindestens EUR 4,3 Mrd. (CHF 6,5 Mrd.) abgeschöpft.
Auch für Analyst Matthias Heck von Sal. Oppenheim ist die Abschaffung von Höchstlaufzeiten eine positive Überraschung. Allerdings könnten die höheren Sicherheitsstandards für die Kernkraftwerkbetreiber eine erhebliche Zusatzbelastung darstellen. Sal. Oppenheim sieht den fairen Wert der RWE-Aktie bei EUR 79 (CHF 119,5) – EUR 17 höher als Commerzbank.
Seit März sind die Aktienkurse der Deutschen Energiekonzerne massiv gestiegen. E.On glänzt mit einem Anstieg von über 50%. Trotzdem geben die Analysten von Société Générale eine Kaufempfehlung für E.On heraus. Einer der grossen Katalysatoren für die Aktie bestehe in der Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke. Die Analysten Morgan Stanley sind sowohl für RWE und E.On zurückhaltender: Die Neubewertung der Kernenergie durch die neue Bundesregierung scheint für sie nicht börsenrelevant. Sowohl RWE wie E.On seien derzeit fair bewertet. Im Zeitraum 2008 bis 2013 dürfte E.On gemäss Morgan Stanley ein relativ geringes durchschnittliches Gewinnwachstum von rund 3% pro Jahr erzielen.
Relativ zum übrigen Aktien-Universum sind die grossen Versorger-Aktien allerdings immer noch moderat bewertet. Darauf deuten die Kennzahlen von EnBW, E.On und RWE hin. Allesamt weisen sie Kurs-/Gewinnverhältnisse von weniger als zehnmal aus (für Gewinnschätzung 2010). Alle drei Konzerne schütten zudem den Aktionären viel Cash aus; die Dividendenrenditen bewegen sich zwischen 5 und 6%.
46% des Stroms erzeugt EnBW mit Kernkraftwerken; bei E.On beträgt dieser Anteil rund ein Drittel; bei RWE 20%. E.On, welche eine Beteiligung von 21% an BKW hält, ist mit einer Marktkapitalisierung von umgerechnet CHF 81 Mrd. der grösste deutsche Energiekonzern. Zum Vergleich: Electricité de France (EDF), welche bezüglich Kernenergie auf eine nachhaltige Zustimmung in Regierung und Bevölkerung zählen kann, wird von der Börse auf umgerechnet CHF 108 Mrd. bewertet.
Fazit
Die aktuelle Diskussion um die Laufzeiten der Kernkraftwerke legt ihre Leistungsfähigkeit offen. Die Börse reagierte prompt auf den Wahlsieg von Schwarz-Gelb. Vor allem Analysten weisen auf die positive Korrelation zwischen Laufzeitenverlängerung und Markbewertung hin. «Die Atommeiler sind echte Goldesel», schreibt deshalb die Nachrichtenagentur DPA. Weil die Kosten, die die Firmen in den Bau gesteckt haben, längst abgeschrieben worden seien, würden die Betreiber dicke Gewinne machen: Experten schätzen rund EUR 1 bis 2 Mio. (CHF 1,5–3 Mio.) pro Tag je Kernkraftwerk.
Künftig dürfte mindestens 51% der Zusatzgewinne, die aus längeren Laufzeiten resultieren, der Förderung der erneuerbaren Energien zu Gute kommen. Da E.On und RWE hier ebenfalls tüchtig mitmischen, fliesst ein Teil dieses Geldes wieder in die Konzernkasse zurück. Aus Aktionärssicht positiv zu werten ist, dass die deutschen Stromkonzerne ab heute in ihrer internationalen Expansion friedlicher Kernenergieerzeugung glaubwürdiger auftreten können und deshalb bessere Karten besitzen.
Zwar spricht derzeit kaum ein Politiker von einem Verzicht des Atomausstiegs. Das Lager der Ausstiegsbefürworter soll so nicht gestärkt werden, so das Kalkül. Die Konzernleiter wiederum sehen mit dem neuen Koalitionsvertrag eine Normalisierung der Energiepolitik. EnBW-Chef Hans-Peter Villis spricht in diesem Zusammenhang nicht von einer Verlängerung der Betriebszeiten, sondern von der Aufhebung der «willkürlichen Verkürzungsbeschlüsse» von Rot-Grün. Doch bereits dieser Schritt ist – zehn Jahre nach dem Ausstiegsbeschluss – als politischer Wendepunkt und als Neubewertung der Kernenergie zu interpretieren. Dies umso mehr, wenn es die neue Koalitionsregierung mit dem Ziel, die Treibhausgase bis 2020 um 40% zu senken (Basis: 1990), ernst meint.
Quelle
Hans Peter Arnold, Wirtschaftspublizist