«Neubewertung der Kernenergie ist nachvollziehbar und richtig»

Jahresversammlung 2022 des Nuklearforums Schweiz

Die Jahresversammlung des Nuklearforums Schweiz am 10. Mai 2022 in Bern stand ganz im Zeichen der aktuellen Diskussion über die Stromversorgung der Schweiz und die Rolle der Kernenergie dabei. Präsident Hans-Ulrich Bigler plädierte erneut für eine ergebnisoffene Technologiedebatte und für das Miteinander von Kernenergie und Erneuerbaren. Drei Gastreferate legten die wirtschaftliche und die juristische Sicht auf das Thema sowie die Position der Solarbranche dar.

11. Mai 2022
Jahresversammlung des Nuklearforums Schweiz
Angeregte Diskussion über die Energiestrategie und das Kernenergieverbot: NR Roger Nordmann, SP, NR Jürg Grossen, GLP, Moderator Reto Brennwald, Nuklearforumspräsident Hans-Ulrich Bigler und NR Albert Rösti, SVP (v.l.n.r).
Quelle: Nuklearforum Schweiz

Die Kernenergie als Option für die Schweizer Stromversorgung ist wieder vermehrt Teil der Debatte. Das belegen auch zwei repräsentative Umfragen, wie der Präsident des Nuklearforums, Hans-Ulrich Bigler, in seiner Ansprache festhielt. Demnach halten sich die Gegner und Befürworter in etwa die Waage.

Keine Denk- oder Diskussionsverbote
Bigler verwies auf die Vorzeichen für die Stromversorgung, die sich angesichts einer bereits kurzfristig drohenden Strommangellage in der Schweiz, immer deutlich werdenden Warnungen von Klimawissenschaftlern und nicht zuletzt des Krieges in der Ukraine verändert haben. «Das damit auch eine mögliche Neubewertung der Kernenergie verknüpft ist, ist so nachvollziehbar wie richtig», so Bigler. Es gelte, den Volksentschied zur Energiestrategie 2050 zu respektieren. Diese enthalte aber keine Denkverbote für mögliche Optimierungen und auch kein Verbot der Diskussion über die Kernenergie.

Verschiedene Prognosen gehen von einer Zunahme des Schweizer Strombedarfs um bis zu 70% bis 2050 aus und mittlerweile warnt auch der Bund vor bereits im Jahr 2025 möglichen Strommangellagen. Solche Szenarien hat eine Arbeitsgruppe des Nuklearforums in einem im bereits Juni 2021 erschienenen White Paper ebenfalls prognostiziert. In Anbetracht der Auswirkungen des Ukrainekrieges auf die globalen Energie-Märkte warf Bigler die Frage auf, ob die Schweiz wirklich im Zweifelsfall in die fossile Stromproduktion einsteigen und sich damit möglicherweise in die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland begeben soll.

Schweiz auf energiepolitischer Geisterfahrt?
In Europa setzen viele Länder neu oder wieder auf Kernenergie. Grossbritannien will bis zu acht neue Kraftwerke bauen und im Jahresrhythmus ans Netz bringen. Frankreich hat eine Nuklearoffensive mit sechs bis vierzehn neuen KKW angekündigt. Polens Einstieg in die Kernenergie wird immer konkreter. Die niederländische Regierung hat den Bau von zwei Kernkraftwerken in den Koalitionsvertrag aufgenommen und Belgien seinen für 2025 geplanten Atomausstieg zumindest aufgeschoben.

Dazu Bigler: «Die Frage, die den Gegnern der Kernkraft hier in der Schweiz gestellt werden darf: Haben alle diese Länder keine Ahnung von vernünftiger Energie- und Klimapolitik oder ist es nicht eher so, dass die Schweiz und Deutschland die Geisterfahrer auf dem Weg zu einer sicheren und umweltfreundlichen Stromproduktion sind?»

Weiter forderte er eine differenzierte Betrachtung des Neubauverbots für Kernkraftwerke. «Es gibt in der Parteipolitik Pro- und Contra-Positionen, es gibt die verständliche skeptische Haltung der Stromunternehmen und es gibt ganz viel Ideologie und reflexartige Standard-Reaktionen, wenn der Begriff ‹Atomkraft› fällt». Diese Diskussion dürfe nicht in die kontraproduktive «Entweder-oder-Frage» zwischen Kernenergie und erneuerbaren Energien münden. «Das gegenseitige Ausspielen der Technologien bringt uns nicht weiter», so Bigler. Die Energiestrategie sollte überdacht werden – technologieoffen und ohne Denkverbote. Massgaben für die Technologien sollte Versorgungssicherheit und Klimaschutz sein. Mit Verweis auf die Gäste aus der Solarbranche bekräftigte Bigler abschliessend, dass das Nuklearforum keine Berührungsängste hat oder Diskussionen scheut.

Wer ist für die Versorgungssicherheit verantwortlich?
Als erster Gastreferent legte der stellvertretende economiesuisse-Geschäftsführer Rudolf Minsch die Anforderungen der Schweizer Wirtschaft an die Stromversorgung dar. Diese müsse vor allem zuverlässig, preiswert und klimafreundlich sein. Er erklärte die kürzlich von führenden Wirtschaftsverbänden vorgestellten fünf Grundpfeiler der Stromversorgung. Diese betonen die Notwendigkeit einer sicheren Stromversorgung bei gleichzeitigem Klimaschutz. Sie beinhalten auch eine technologieoffene Planung. In diesem Zusammenhang ging Minsch auch auf die Kernenergie ein: «Solange die Kernkraftwerke sicher sind, sollten diese unbedingt weiterbetrieben werden.» Sollten diese Anlagen sehr früh abgeschaltet werden, drohe spätestens 2035 eine sehr grosse Stromlücke, die mit Importen gefüllt werden müsste.

Anschliessend ging Peter Hettich, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen, der Frage nach der Verantwortung bei der Versorgungssicherheit aus juristischer Sicht nach. Die Antwort darauf ist kompliziert, nicht zuletzt da die Schweizer Energiewirtschaft aus zahlreichen Akteuren auf verschiedenen Ebenen zusammengesetzt ist. Die Verantwortung für gute energiepolitische Rahmenbedingungen liege jedoch klar beim Bund. Die Ankündigung von Gaskraftwerken bezeichnete Hettich als «Bankrotterklärung». Die in der Energiestrategie angenommene Stilllegung der bestehenden Kernkraftwerke nach 50 Jahren sei für ihn kein Thema mehr, 60 Jahre seien realistisch. «Der perverse Effekt ist, dass wir uralte Kraftwerke weiterlaufen lassen müssen und keine neuen bauen dürfen.» Die Gretchenfrage der Energiestrategie sei, ob als Backup für Stromlücken Gas- oder Kernkraftwerke eingesetzt werden sollen.

Nationalrat Roger Nordmann (SP/VD) erörterte, wie die Stromversorgung auch im Winter mit Photovoltaik sichergestellt werden könne. Das Potenzial der Schweiz für die Stromversorgung durch Photovoltaik sei enorm gross. Allerdings müsse der PV-Ausbau um den Faktor 17 gegenüber 2020 steigen. Problematisch sei noch die Stromlücke im Winter. Diese könnten aber etwa mit Power-to-gas-Lösungen aus Photovoltaik zum Teil geschlossen werden. Im Worstcase seien etwa 9 TWh fossiler Gasstrom notwendig. Durch die gleichzeitige weitgehende Dekarbonisierung aller übrigen Sektoren, insbesondere Verkehr und Gebäude, würde sich aber auch in diesen Fall eine Einsparung der CO2-Emissionen um 86% ergeben.

Bei der anschliessenden Podiumsdiskussion mit den Nationalräten Albert Rösti (SVP/BE), und Jürg Grossen (GLP/BE) sowie Nordmann und Bigler ging es auch um das geltende Neubauverbot für Kernkraftwerke. Albert Rösti und Hans-Ulrich Bigler betrachten diese Regelung als Technologieverbot, das aufgehoben werden sollte, um langfristig wieder Kernenergie einsetzen zu können. «Wir sollten das Technologieverbot jetzt streichen, damit wir die neue Generation von Kernreaktoren nicht verschlafen», so Albert Rösti. Roger Nordmann hält das Verbot für richtig, auch wegen der dichten Besiedlung der Schweiz. «In Frankreich etwa sind alle Kernkraftwerke 50 Kilometer entfernt von einer Agglomeration. Das ist in der Schweiz nicht möglich.»

Jürg Grossen wollte eine Zustimmung für die Kernenergie in der Zukunft nicht grundsätzlich ausschliessen. «Wenn wir sehen, dass es neue Technologien gibt, die wesentlich besser sind und nicht dieselben Risiken haben, dann kann ich mir vorstellen, die Hürden niederzureissen. Aber die aktuelle Technologie ist nicht zielführend.»

Eine hoch aufgelöste Version des Fotos finden Sie hier.

Den Mitschnitt der Jahresversammlung finden Sie auf YouTube unter diesem Link.

Kontakt

Stefan Diepenbrock, Leiter Kommunikation, stefan.diepenbrock@nuklearforum.ch  
Matthias Rey, Media Relations, matthias.rey@nuklearforum.ch
 
Nuklearforum Schweiz, Frohburgstrasse 20, 4600 Olten
Tel.: +41 (0)31 560 36 50

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