Von Etikettenschwindeln und Mogelpackungen
Haben Sie das gewusst? Aus Ihrer Steckdose kommt Strom aus isländischer – nein, nicht inländischer, isländischer – Wasserkraft! Möglich macht dies das System der Stromkennzeichnung. Denn jede Kilowattstunde, die in Europa ein Kraftwerk verlässt, erhält ein Zertifikat, auf dem vermerkt ist, wie, wann und wo diese Kilowattstunde produziert worden ist: den sogenannten Herkunftsnachweis. Und so gibt’s in der Schweiz «1 kWh Made in Iceland» zu kaufen!
Kennzeichnungen, Inhaltsangaben, Ursprungsbezeichnungen, Labels – sie sind seit Jahren und Jahrzehnten weit verbreitet und dienen der Transparenz und dem Schutz von Produzenten und Konsumenten. Ein informierter Kaufentscheid ist, so die These, ein besserer Kaufentscheid und macht aus uns mündige Kundinnen und Kunden. Täuschung und List wird dank dieser Transparenz ein Riegel geschoben. Und so wird sichergestellt, dass ein Freiburger Safranbrot auch wirklich im Kanton Freiburg gebacken und Rheintaler Riebelmais auch wirklich ausschliesslich in den Bezirken Unterrheintal, Oberrheintal, Werdenberg, Sargans beziehungsweise den Gemeinden Fläsch, Maienfeld, Landquart, Jenins, Malans, Zizers, Untervaz beziehungsweise dem Fürstentum Liechtenstein mit einer Bestandsdichte von maximal sieben Pflanzen pro Quadratmeter angepflanzt wurde.
Für den so ermächtigten Konsumenten ist es daher ein leichtes, sich gesundheitlich, ökologisch und sozial vorbildlich zu verhalten, indem er sich an die angesagten Labels hält und sich dadurch nicht nur das Produkt, sondern gleichzeitig auch noch das gute Gewissen und die gesellschaftliche Anerkennung kauft. Mit einem gezielten Griff ins Regal oder dem richtigen Mausklick ist das Tierwohl garantiert, das Palmöl eliminiert und der CO2-Ausstoss des Fluges kompensiert.
Gleiches gilt dank der Stromkennzeichnungspflicht auch für Strom. Die primären Ziele der Stromkennzeichnung seien, so der Bundesrat in einer Medienmitteilung aus dem Jahr 2004, «der Schutz und die transparente Information der Konsumentinnen und Konsumenten». Sie würden damit «eine wichtige Entscheidungshilfe für die Wahl eines bestimmten Stromprodukts in die Hand» erhalten. Ein Jahr darauf wurde die Pflicht zur Stromkennzeichnung 2005 verbindlich eingeführt.
Die ganze Welt der Labels, Inhaltsangaben und Deklarationen hat allerdings einen Haken: Wer garantiert, dass auch das drin ist, was draufsteht? Wer garantiert, dass der versprochene Nutzen auch tatsächlich erzielt wird? Wer kontrolliert das? Kurz: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Wenn auf einer Zitrone der Bio-Kleber drauf ist, dann darf man sich durchaus fragen, wie der Kleber dahingekommen ist. Aber es gibt selbstverständlich absolut seriöse Organisationen und Bundesstellen, die streng kontrollieren, dass kein Etikettenschwindel betrieben wird und keine Mogelpackungen ins Regal gelangen. Darauf können wir uns verlassen (und müssen uns verlassen können).
Herkunftsnachweise für Strom werden getrennt vom Produkt gehandelt!
Umso interessanter ist die diesjährige Medienmitteilung des Bundesamts für Energie zur «Herkunft» unseres Stroms. Forsch titelt das Amt: «80 Prozent des Stroms aus Schweizer Steckdosen stammten 2021 aus erneuerbaren Energien»! Daran ist eigentlich nichts falsch zu verstehen. Genauso, wie das Freiburger Safranbrot AOP, das ich gerade esse, aus – sagen wir – Bulle stammt, genauso stammt also 80 Prozent des Stroms aus unseren Steckdosen aus erneuerbaren Energien. Davon muss ich als Konsumenten ausgehen und ausgehen können, wenn es das Bundesamt so sagt.
Nun hat das Bundesamt zur Medienmitteilung noch ein weiteres Dokument verlinkt, nämlich ein sogenanntes «FAQ zum Schweizer Strom-Liefermix». Dort wird gleich als erstes gesagt, der Liefermix basiere auf der Stromkennzeichnung. Klar! Dann wird erklärt, dass für jede Kilowattstunde Strom, die erzeugt werde, ein Herkunftsnachweis ausgestellt werde, der aber vom physischen Stromfluss entkoppelt sei. Aha! Mit diesen Herkunftsnachweisen könne anschliessend gehandelt werden. Ups, was heisst das?
Für die Konsequenzen, die diese Trennung von Produkt und Deklaration nach sich zieht, muss etwas tiefer ins Dokument eingestiegen werden. Es wird erklärt, dass diese Herkunftsnachweise ein Jahr gültig seien. Es sei daher, so wörtlich, «möglich, für den Stromverbrauch im Winter auch Herkunftsnachweise aus dem Sommer zu verwenden». Und an anderer Stelle wird gesagt, knapp 20 Prozent der Herkunftsnachweise für erneuerbare Energien stammten aus dem Ausland, unter anderem aus Island!
Auch der Stromverbrauch in der Nacht kann als Solarstrom ausgewiesen werden, steht da. Fairtrade-Espresso, gebrüht an einem kalten verschneiten Februarmorgen mit Photovoltaik? Dank Herkunftsnachweisen kein Problem!
Doch halt: In der Schachtel aus Island, die mit dem Label «1 kWh Hydropower Made in Iceland» versehen ist, ist gar keine Kilowattstunde aus Island drin, sondern…nichts! Die Kennzeichnung auf der Schachtel kann für irgendeine Kilowattstunde, die im Laufe des Jahres verbraucht wird, eingesetzt werden. Wer also an einem kalten, verschneiten Februarmorgen einen Fairtrade-Espresso mit Photovoltaik trinken will, klebt der Kilowattstunde, die dazu nötig ist, einfach das Solarstrom oder – wenn es Wasserkraft sein soll – das Made-in-Iceland-Label an.
Etikettenschwindel und Mogelpackung?
Der Vorwurf des «Green-Washing» mittels Stromkennzeichnung wird seit langem erhoben. Per Mausklick kann bei diversen Stromanbietern in der Schweiz ein Stromprodukt mit 100 Prozent Photovoltaik bestellt werden – für das ganze Jahr, Tag und Nacht. Wenn genug Herkunftsnachweise auf dem Markt sind, könnte man sich sogar vollständig mit isländischer Wasserkraft versorgen. Kein Wunder, wurde im Parlament zu Bern auch schon vorgeschlagen, die Schweiz zu 100 Prozent erneuerbar zu machen – mit Herkunftsnachweisen!
Immerhin: Nun wird auch hier der Riegel langsam geschoben. Ab 1. Juli 2023 soll auf eine «quartalsscharfe Stromkennzeichnung umgestellt» werden, so schreibt der Bundesrat. Damit soll «die Saisonalität von Stromproduktion und -verbrauch besser abgebildet» werden. Die Endverbraucher hätten dann «Gewissheit, dass die ausgewiesene Stromherkunft saisonal mit ihrem Verbrauch übereinstimmt». Das wurde – nach fast 20 Jahren – auch Zeit. Energiepolitische Wünsche und physikalische Realitäten nähern sich wieder an, auch wenn noch mehr möglich- und wünschbar wäre, damit das Vertrauen in das Stromlabel (und die Kommunikation des Bundesamts für Energie) genauso hoch wird wie das Vertrauen in die Herkunft des Rheintaler Riebelmaises AOP.
Die gute Nachricht: Angesichts des physikalischen Strommix hierzulande könnte es sich bei der Kilowattstunde, die tatsächlich an einem kalten verschneiten Februarmorgen für den Espresso verbraucht wird, um einheimische Kernenergie handeln. Auch gut (oder fast noch besser)!
Verfasser/in
Peter Quadri, Vorstandsmitglied beim Nuklearforum Schweiz