Im April 1975 war ich 16 und hatte anderes im Kopf als Kernkraftwerke. Trotzdem liess mich die Geburt der Schweizer Anti-Atombewegung nicht kalt. Rechtlich hatten die Besetzerinnen und erst recht die Sprengstoffattentäter von Kaiseraugst Grenzen weit überschritten. Einigen mag es eher um Umsturz als um Energie gegangen sein, aber eines bleibt: Die Anti-AKW-Bewegung manifestierte damals lautstark das emotionale Unbehagen gegenüber der noch jungen Technologie. Das Unbehagen teilte sie mit einem grossen Teil der Bevölkerung. Auch mit mir.

50 Jahre ist das her. In diesen 50 Jahren stürzten der Ostblock ein, die Swissair und die Credit Suisse. Es kamen das Internet, der PC, das Handy und die künstliche Intelligenz. Wer hätte sich irgendetwas davon im April 1975 auch nur ansatzweise vorstellen können?

Unsere AKW laufen sicher und stabil und bilden nach wie vor das Rückgrat unserer Stromversorgung. 50 Jahre. Wäre das nicht einmal die Gelegenheit, das emotionale Unbehagen von damals zu hinterfragen?

Mein Berufsweg führte mich 25 Jahre nach Kaiseraugst auch in den Bereich Kernenergie. Ich habe alle fünf Schweizer Anlagen von innen gesehen, mit Kraftwerksleitern, Operateuren und Schichtleiterinnen gesprochen und unter anderem das Rahmenbewilligungsgesuch für Beznau-3 mit-redigiert. Der Logos der Erfahrung hat mich von meinem emotionalen Unbehagen befreit.

Optionen statt Verbote

Auch viele Schweizerinnen und Schweizer haben ihr Unbehagen abgelegt, zumindest so weit, dass sie sich bei Umfragen und Volksabstimmungen immer wieder für AKWs aussprachen. «Schrötig, aber nötig» war zwar ein Slogan der LKW-Branche, aber er trifft wohl ziemlich genau die Mehrheitshaltung zum Thema AKW. Am 13. Februar 2011 stimmte der Kanton Bern konsultativ sogar für den Neubau von Mühleberg-2.

Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) mögen das Vertrauen der Bevölkerung in ihre AKW zeitweilig erschüttert haben, aber sie haben es nicht nachhaltig geschädigt. Während Deutschland seine Kernkraftwerke direkt nach Fukushima vom Netz nahm oder deren Abschalttermine festsetzte, stimmte die Schweiz 2016 klar gegen eine Initiative der Grünen, die unsere AKW nach 40 Jahren ausser Betrieb setzen wollte. Die Folge: Schweizer AKW laufen, solange sie sicher und für den Betreiber wirtschaftlich sind. Seither hat man die Annahmen der Laufzeit auf über 60 Jahre gesetzt, man spekuliert sogar bereits über 80 Jahre. Politischer Widerstand? Fehlanzeige.

Unser «Atomausstieg» ist etwas völlig anderes als der deutsche. Er manifestiert sich ausschliesslich im Verbot, neue AKW zu bauen. Das Verbot, geboren aus dem Schock von Fukushima, war ein typischer Schweizer Kompromiss, wie er nördlich des Rheins nicht vorstellbar wäre. Nume nid gsprängt. Wir verschieben das Kopfweh, solange es geht, und halten uns möglichst viele Optionen möglichst lange offen. Ja, so sind wir Schweizer halt.

Die Optionen sind der zentrale Aspekt in der Frage, ob wir das Verbot von neuen AKW aufheben sollen. Sind wir immer noch optimistisch, dass wir rechtzeitig andere, bessere Lösungen finden für Sicherheit, Klima und Portemonnaie? Wir haben seit 2017 eine Energiekrise erlebt und auch gesehen, wie sich einige Annahmen der Energiestrategie 2050 in Luft auflösten. Wir sehen einen beachtlichen Zubau von Solarenergie und die Probleme, die das Netz dadurch lösen muss. Wir sehen den lokalen Widerstand gegen Wind und Wasser und die politischen und technischen Engpässe mit Stromimporten. Batterien und Wasserstoff bleiben weit am Horizont, doch Gaskraftwerke bauen sich immer konkreter vor uns auf.

Und wir sehen ganz neue nukleare Entwicklungen. Passiv sichere AKW mit Uran oder Thorium als Brennstoff und einer ganzen Reihe von Kühlvarianten. Kernschmelzen werden nicht mehr möglich sein. Wir sehen kleine und kleinste Reaktoren in modularer Bauweise und mit variablen Einsatzmöglichkeiten, die in wenigen Jahren von der Stange ans Netz gehen werden.

Für eine rationale Energiezukunft

Sind neue nukleare Lösungen wieder eine Option, die wir nicht einfach so aufgeben sollten? Testen wir die Ratio. Wer der Meinung ist, dass es neue AKW braucht, wird Ja zur Aufhebung des Verbots stimmen. Aber auch wer sich sicher ist, dass wir mit der Energiestrategie 2050 auf dem richtigen Weg sind, kann getrost ein Ja einlegen.

Denn rational war das Verbot schon 2017 überflüssig. Wenn es – wie es die Energiestrategie vorsieht – möglich ist, mit anderen Energiequellen die Schweiz sicher, klimafreundlich und wirtschaftlich mit Strom zu versorgen, dann werden so oder so keine neuen AKW mehr gebaut. Wenn die Nukleartechnik veraltet und von gestern ist – wie viele Gegner behaupten – warum muss man sie dann verbieten? Veraltete Technologien wurden immer schon von neuen, besseren verdrängt. Das Wählscheibentelefon verbieten? Den Fax oder den Röhrenfernseher?

Auch die beiden Hauptgruppierungen für das Weiterbestehen des AKW-Verbots haben die Logik auf ihrer Seite. Einerseits die Profiteure der Energiestrategie: Energieerzeuger, Technikfirmen, Solarinstallateure etwa, aber auch Verbände, NGOs und Hochschulen, die ihren Beitrag zur Energiestrategie leisten und damit ein Geschäftsmodell aufgebaut haben, mit Subventionen angetrieben. Das Verbot neuer AKW schützt diese Geschäftsmodelle.

Ähnliches gilt für politische Parteien, die sich über Jahrzehnte mit Anti-Atom profiliert haben und in einem AKW immer mehr das politische Potenzial als die Technik gesehen haben. Wer so ein kraftvolles Narrativ wie das der teuflischen, die Menschheit vernichtenden Technologie geschaffen hat, der wird wohl – auch wenn die Fakten das Gegenteil belegen – nicht mehr davonlassen können. Ich kenne einige der damaligen Besetzer von Kaiseraugst persönlich, und ich zweifle, ob irgendetwas, was in den letzten 50 Jahren passiert ist, sie von ihrem emotionalen Unbehagen befreien konnte.

Ich kann also sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Opposition gegen die Aufhebung des AKW-Verbots rational nachvollziehen. Aber gewichten wir einzelne Geschäftsmodelle und politische Narrative wirklich höher als die sichere Stromversorgung für Gesellschaft und Wirtschaft? Brauchen wir volkswirtschaftlich – gerade in einer disruptiv anmutenden Weltlage – nicht möglichst viele Optionen?

Die Energiestrategie 2050 setzt selber auf viele Optionen. In der Umsetzung hat sie damit zwar die Frage, ob es tatsächlich ohne neue AKW geht, noch nicht überzeugend beantwortet. Aber sie hat auch eine grosse Stärke: Sie hat das Denken neu ausgerichtet, hat innovative Ideen ermöglicht, die zu neuen, effizienten Lösungen führen. Sei es im Bau, in der Mobilität, im Konsum oder in der Energieproduktion selber. Das brauchen wir!

Es wird auch in den nächsten 50 Jahren viel passieren, wovon wir heute nicht mal träumen. Eine Prognose aber scheint mir wenig gewagt: Unsere Kinder und Enkel werden in einer Gesellschaft leben, die immer abhängiger von Energie sein wird. Umso wichtiger ist für sie der sorgsame und effiziente Umgang mit Ressourcen. Dafür werden wir smarte Lösungen brauchen. Vielleicht sind diese dereinst auch nuklear.

Was wir sicher nicht brauchen, sind Verbote.

Rainer Meier (66) war von 2006 bis 2021 Kommunikationsleiter der Axpo. Heute ist er als Senior Advisor für verschiedene Unternehmen in den Bereichen Reputation und Krisenkommunikation tätig.

Verfasser/in

Rainer Meier

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