Taxonomie-Reaktion: scheinheilige Doppelmoral

Zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres war der Aufschrei gross und dürfte bis Brüssel gehört worden sein. Nachdem die EU-Kommission Anfang 2022 in ihrem Entwurf zur Taxonomie für nachhaltige Investitionen Kernenergie und Erdgas aufgenommen hatte, folgte Anfang Juli das EU-Parlament diesem Vorschlag mit einer letztlich doch deutlichen Mehrheit.

10. Okt. 2022
EU-Flaggen
Das EU-Parlament hat Kernenergie und Gas und die EU-Taxonomie aufgenommen.
Quelle: Pexels

Die Reaktionen von vermeintlichen Umwelt- und Klimaschützer sowie Kernkraftgegnern liess – wie schon im Januar – nicht lange auf sich warten. Reflexartig machte der Vorwurf des «Greenwashing» die grosse öffentliche Runde. Neben Mitgliedsstaaten wie Österreich und Luxemburg kündigte auch Greenpeace eine Klage gegen diesen Entscheid des europäischen Parlaments an, um die Taxonomie-Regelung doch noch zu verhindern. So weit, so erwartbar. Die Kritik offenbart aber auch die eher scheinheilige Doppelmoral der Gegner der Kernenergie. Man kann über die Taxonomie geteilter Meinung sein. Wenn aber diese Regelung zu nachhaltigen und klimafreundlichen Investitionen führen soll, müsste vor allem der Einbezug von Erdgas mit seinen enormen klimaschädlichen Emissionen bei Klimaschützern diesen Sturm der Entrüstung auslösen. Kernenergie kann aus vielen Gründen als «grün» gelabelt werden und punktet auch bei einer ganzheitlichen Betrachtung der Nachhaltigkeitskriterien. Schon Mitte des letzten Jahres kam die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission (Joint Research Center, JCR) zu dem Schluss, dass die Kernenergie weder für die menschliche Gesundheit noch für die Umwelt schädlicher ist als jede andere als nachhaltig geltende Technologie zur Energieerzeugung. Eine Erkenntnis, die eigentlich nicht neu ist und vielfach von unabhängigen Stellen bestätigt wurde.

Bei fossilem Erdgas dagegen muss man schon eine Menge Fantasie aufbringen, um hier nachhaltige Eigenschaften zu finden. Diese wichtige Unterscheidung zwischen den beiden Energieformen Kernenergie und Gas wurde in der Taxonomie-Debatte leider aber viel zu selten vorgenommen. Der Fehler der Taxonomie bestand demnach darin, fossiles Gas mit grüner Atomkraft zu verknüpfen.

Tweet Florian Aigner
1. Der österreichische Wirtschaftspublizist Florian Aigner auf seinem Twitter-Account über die Aufnahme von Gas in die EU-Taxonomie.
Quelle: Twitter / Florian Aigner

Der österreichische Wissenschaftspublizist Florian Aigner hat auf Twitter das Dilemma, dass beide Energieformen nur gemeinsam als nachhaltig in den Taxonomie-Beschluss aufgenommen werden konnten, auf den Punkt gebracht. «Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn JournalistInnen heute die Kernenergie in der Taxonomie zum Skandal erklären und das Thema Gas nur nebenbei erwähnen. Man kann aus guten Gründen gegen Kernenergie sein. Bin ich auch. Aber beim Klima ist Gas der Skandal, nicht Kernenergie.»

(Vielleicht) überraschend, aber angenehm ehrlich, lautet auch die Stellungnahme zum Taxonomie-Entscheid von Greta Thunberg, der Symbolfigur der Klimabewegung Fridays for Future – vor allem wenn man darauf achtet, was sie nicht sagt: «Das EU-Parlament hat gerade dafür gestimmt, fossiles Gas als ‹grüne› Energie zu bezeichnen. Die Heuchelei ist frappierend, aber leider nicht überraschend.» Haben sie es bemerkt? Kein kritisches Wort zur Atomkraft. Und das ist richtig so.

Leider waren diese differenzierten Bewertungen gerade in der deutschsprachigen Öffentlichkeit eher die Ausnahme – auch in den Medien. Die verpassten der Taxonomie das mittlerweile gewohnte Framing: «EU-Parlament stuft AKWs als klimafreundlich ein», titelte «Blick» und auch «Der Bund» bediente das gängige Klischee: «Atomkraft bekommt grünes Label». Quasi kein Beitrag zur Taxonomie kam ohne das obligatorische Bildmotiv eines AKW-Kühlturms aus, gern garniert mit ein paar Bildern aus Tschernobyl oder Videosequenzen aus Fukushima. Erdgas und dessen Umweltauswirkungen: Nebensache. Gefühlte 90% der Kritik an der Taxonomie entzündete sich an der Aufnahme der Kernenergie, während die gleiche Behandlung von Erdgas eher im Vorbeigehen abgelehnt wurde. Wer bislang schon einmal über den Begriff «Framing» gestolpert ist, aber damit nichts anzufangen wusste, fand bei der Berichterstattung gute Beispiele dafür, was von Robert Entman, Professor für Medien und Public Affairs an der Universität Washington, so definiert wird: «Framing bedeutet, einige Aspekte einer wahrgenommenen Realität auszuwählen und sie in einem Text so hervorzuheben, dass eine bestimmte Problemdefinition, kausale Interpretation, moralische Bewertung und/oder Handlungsempfehlung für den beschriebenen Gegenstand gefördert wird.»

Diese pauschale Be- und Verurteilung der Kernenergie in der Taxonomie setzte sich folglich in der öffentlichen Empörung auch nach dem bekannten Muster fort: «Atomkraft ist zu teuer, der Neubau dauert zu lange, Uran kommt aus Russland, die Abfallfrage ist ungelöst, die Sicherheit Kernenergie ist nicht beherrschbar und auch zur Klimafreundlichkeit gibt es grosse Fragezeichen.» Kaum jemand – auch nicht die Medienvertreter – hat sich die Mühe gemacht, die detaillierte Regelung zur Taxonomie zu studieren, oder der Frage nachzugehen, wie die Auswirkungen auf die internationalen Finanzströme genau aussehen werden. Die Kriterien, nach denen Kernenergie als nachhaltig gilt, sind nämlich ziemliche Herausforderungen: Investitionen in neue Kernkraftwerke sollen beispielsweise dann als nachhaltig klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neuesten technischen Standards entsprechen und wenn diese bis spätestens 2045 eine Baugenehmigung erhalten haben. Als weitere Bedingung ist ein konkreter Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für hochaktive Abfälle ab spätestens 2050 vorgesehen.

Die meisten Gegner der Taxonomie-Entscheidung haben sich mit diesen Details gar nicht erst aufgehalten. Ein plumpes «Atomkraft ist weder grün noch nachhaltig» musste reichen. Man konnte den Eindruck bekommen, als wollte das EU-Parlament mit dem Beschluss nicht lediglich dazu beitragen, in der Europäischen Union mehr Geld in nachhaltige Tätigkeiten zu lenken, sondern habe eine europaweite Steuerfinanzierung für alle Kenkraftwerksneubauten beschlossen.

Protest Campact
Bereits im Januar protestierte der Verein Campact mit den bekannten Symbolen vor dem deutschen Bundeskanzleramt in Berlin gegen die Kernenergie.
Quelle: Paul Lovis Wagner / Campact

Im Sog von Greenpeace oder WWF riefen vor allem selbst ernannte Klimaschützer nicht nur auf der Besuchertribüne des Parlamentsgebäudes «Verrat». Sie werden nicht müde zu betonen, dass die Bekämpfung des Klimawandels die mit Abstand grösste gesellschaftliche Aufgabe sei, der sich alle Teile der Gesellschaft unterordnen müssten und bei der sich die Politik an den Empfehlungen der Wissenschaftler zu orientieren habe. Diese Forderungen verstummen aber ganz schnell, wenn die nachgewiesen klimafreundliche und verlässliche Kernenergie ins Spiel kommt. Offenbar ist die Angst vor dem Klimawandel dann doch nicht so gross, als dass die Klimaschützer ihr «Tabu» Kernenergie fallen lassen würden.

Mehrere Akteure haben wie eingangs erwähnt angekündigt, gegen den Taxonomie-Entscheid klagen zu wollen. So die Mitgliedsstaaten Österreich und Luxemburg, die hier eine Kompetenzüberschreitung der EU-Kommission sehen. Auch Greenpeace hat eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) angekündigt und ist zuversichtlich, dass der EuGH «dieses politisch motivierte Greenwashing für ungültig erklären wird, da es eindeutig gegen europäisches Recht verstösst.» Diese Klageankündigungen lassen ein merkwürdiges Demokratieverständnis vermuten. Wohlgemerkt haben hier die gewählten Abgeordneten der EU-Mitgliedsstaaten über die Taxonomie abgestimmt. Mehr Demokratie geht fast nicht (ausser in der Schweiz). Diesen Parlamentsbeschluss dann – wenn das Ergebnis nicht den eigenen Wünschen entspricht – mit juristischen Mitteln wieder kippen zu wollen, ist mehr als nur eine «schlechter Verlierer»-Mentalität. Greenpeace offenbart im Titel seiner Medienmitteilung ziemlich unverhohlen seine Abneigung gegen das System der Parlamentarischen Demokratie: «Taxonomie: Greenpeace kündigt Klage an, nachdem die EU-Abgeordneten es nicht geschafft haben, Gas und Atomkraft auszuschliessen.»

Was bleibt? Atomkraft ist nach wie vor ein ideologisches und zum Teil auch emotionsgeladenes Thema – vor allem in deutschsprachigen Raum. An dem Beispiel der Taxonomie wird deutlich, dass es nicht viel braucht, um die seit Jahrzehnten währende Grundsatzdebatte in der Öffentlichkeit neu zu entfachen. Stellen wir uns ihr!

Verfasser/in

Stefan Diepenbrock, Leiter Kommunikation Nuklearforum Schweiz

Bleiben Sie auf dem Laufenden

Abonnieren Sie unseren Newsletter

Zur Newsletter-Anmeldung

Profitieren Sie als Mitglied

Werden Sie Mitglied im grössten nuklearen Netzwerk der Schweiz!

Vorteile einer Mitgliedschaft