«Kernenergie neu denken»
Interview mit Lubomir Bures von Seaborg (Teil 1)
Das dänische Startup Seaborg macht eigenen Angaben zufolge «die Kernenergie zu einer kostengünstigen, nachhaltigen und sicheren Technologie, die fossilen Brennstoffen den Rang ablaufen und die Energiemärkte revolutionieren kann». Im Interview erklärt Dr. Lubomir Bures, Spezialist für Multiphysik bei Seaborg, welche technologischen und wirtschaftlichen Ansätze das Unternehmen verfolgt und wie der Seaborg-Reaktor gegen Klimawandel und Energiearmut helfen soll.
Auf der Seaborg-Website heisst es, dass sich Ihre Reaktortechnologie «grundlegend von dem unterscheidet, was heute existiert». Was genau ist der Compact Molten Salt Reactor und was macht ihn so revolutionär?
Zunächst einmal verwendet der Compact Molten Salt Reactor (CMSR) einen völlig anderen Brennstoff als herkömmliche Kernreaktoren: Das spaltbare Material ist in einem geschmolzenen Fluoridsalz gelöst, das durch den Primärkreislauf fliesst. Der Brennstoff ist somit gleichzeitig das primäre Kühlmittel. Ein solches Konzept bietet völlig neue Ansätze für die Reaktorauslegung, den Betrieb und den Lebenszyklus und ermöglicht es uns, das gesamte Konzept für die Entwicklung, den Einsatz und die Stilllegung von Kernreaktoren zu überdenken. Darüber hinaus verwendet der CMSR von Seaborg im Gegensatz zu anderen Salzschmelzenreaktorkonzepten einen patentierten Flüssigmoderator: Natriumhydroxid (NaOH), ein hervorragender Neutronenmoderator, der einen kompakten Kern ermöglicht (daher der Name CMSR). Die Tatsache, dass es flüssig ist, bedeutet, dass sich keine Strahlungsschäden ansammeln, wie dies bei «typischen» graphitmoderierten Salzschmelzereaktoren der Fall ist, wodurch sich die Lebensdauer des Kerns erheblich verlängert.
Es gibt andere Arten von fortgeschrittenen Reaktorkonzepten in verschiedenen Entwicklungsstadien. Warum hat sich Seaborg für die Salzschmelze-Technologie entschieden? Was sind ihre Hauptvorteile im Vergleich zu anderen Reaktorkonzepten?
Wir haben uns für die Salzschmelze-Technologie entschieden, weil sie viele Vorteile bietet. Salzschmelzereaktoren haben mehrere inhärente Sicherheitsmerkmale, die die Konstruktion vereinfachen und gleichzeitig die Sicherheit gegenüber einem sehr breiten Spektrum postulierter Unfälle erhöhen, wie etwa ein negativer Temperaturkoeffizient der Reaktivität. Ausserdem können sie bei niedrigem Druck betrieben werden, und das Salz kann Spaltprodukte zurückhalten. Beide Aspekte der Technologie bringen zusätzliche Sicherheitsvorteile mit sich. Insgesamt ermöglicht das Risikoprofil eines Salzschmelzenreaktors eine geringere Abhängigkeit von aktiven Sicherheitssystemen und damit verbundene eine einfachere Konstruktion und Kostenreduzierung.
Abgesehen von den Sicherheitsmerkmalen bringt die Verwendung eines flüssigen Brennstoffs eine noch nie dagewesene Freiheit in Bezug auf den Brennstoffkreislauf. Im speziellen Fall des Seaborg-CMSR sind wir für einen zwölfjährigen Betriebszyklus ausgelegt. Dies wäre bei anderen Reaktorkonzepten schwierig. In diesem Sinne ist die Verwendung eines geschmolzenen Salzes in Verbindung mit dem Moderator ein entscheidender Faktor für den von Seaborg angestrebten Einsatz des Reaktors auf Schiffen.
Welche Schwierigkeiten und Herausforderungen sind bei der Entwicklung zu bewältigen?
Da die Technologie so neu ist, ist erheblicher Forschungs- und Entwicklungsaufwand erforderlich. Im Seaborg-CMSR werden drei verschiedene Salzschmelzen verwendet: Brennstoff und sekundäres Kühlmittel sind Fluorid-Salze, der Moderator ein Hydroxid-Salz. Daher müssen wir viel Materialwissenschaft und Korrosionsforschung betreiben; daran arbeiten wir in unseren eigenen Labors und in Zusammenarbeit mit externen Partnern. In gewisser Weise stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen wie die Atomindustrie vor mehr als 70 Jahren: Wir müssen die Technologie innerhalb weniger Jahre vom Labormassstab auf die industrielle Ebene bringen. Das ist natürlich eine Herausforderung, aber auch sehr spannend.
Neben der technologischen Forschung und Entwicklung befassen wir uns auch mit dem umfassenden Sicherheits- und Genehmigungsrahmen. Der CMSR unterscheidet sich einerseits stark von herkömmlichen Kernreaktoren und erfordert daher einen anderen regulatorischen Ansatz für den Sicherheitsnachweis. Andererseits ist unsere internationale Genehmigungsstrategie, die maritime und nukleare Aspekte kombiniert, völlig neu. Wir gehen diese Herausforderung aktiv an mit den relevanten Interessengruppen aus beiden Bereichen, z. B. der Internationalene Atomenergie-Organisation IAEO, der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation der UNO (International Maritime Organization, IMO) und mehreren nationalen Aufsichtsbehörden. Bisher haben wir sehr positive Erfahrungen gemacht.
Wie sieht Ihr Entwicklungszeitplan aus und wo steht das Projekt darin?
Im maritimen Bereich befinden wir uns derzeit in der Phase der Konzeptverifizierung und bereiten die nächste Einreichung beim American Bureau of Shipping (ABS) vor, der Klassifizierungsgesellschaft, die bereits eine Machbarkeitserklärung für unser Konzept im Juli 2020 abgegeben hat. Was die nuklearen Aspekte betrifft, so arbeiten wir derzeit an den vorläufigen Sicherheitskonzepten, die im ersten Sicherheitsbewertungsbericht aufgeführt sind. Wir streben die Auslieferung der ersten CMSR Power Barge im Jahr 2028 an – wir sind uns bewusst, dass dieser Zeitplan im Vergleich zu den Zeitplänen für Kernreaktoren früherer Generationen und in Anbetracht der für ein Schmelzsalzsystem erforderlichen Forschung und Entwicklung sehr optimistisch ist. Dennoch glauben wir, dass der Meilenstein 2028 möglich ist, da – abgesehen von den F&E-Aspekten – die Konstruktion und der Bau des CMSR wesentlich einfacher sind als bei Reaktoren der vorherigen Generation. Es handelt sich um ein sehr ambitioniertes Projekt, vielleicht vergleichbar mit einer Mondlandung – aber für den Klimawandel zählt jeder einzelne Versuch einer Mondlandung.
Was ist die Idee hinter der Power Barge?
Bei der CMSR Power Barge handelt es sich, kurz gesagt, um ein schwimmendes Kraftwerk. Fossil befeuerte schwimmende Kraftwerke sind ein etabliertes Konzept und auf der ganzen Welt sind mehrere konventionelle Kraftwerke auf Schiffen in Betrieb. Es gibt auch Beispiele für schwimmende Kernkraftwerke, zuletzt die russische Akademik Lomonosov, die derzeit im Fernen Osten Sibiriens sowohl Strom als auch Wärme liefert. Der Einsatz von Stromerzeugungskapazitäten auf einem Lastkahn bringt Flexibilität und verringert die Anforderungen an den Standort und die bestehende Infrastruktur. Darüber hinaus ist es bei schwimmenden Kernkraftwerken einfacher, Bau und Stilllegung zentralisiert an einem Ort durchzuführen. Das Power-Barge-Konzept nutzt auch die Möglichkeiten der maritimen Industrie in vollem Umfang. Die Montage sowohl des CMSR-Energiemoduls als auch der Träger-Barge in ein und derselben Werft wird es uns ermöglichen, die Fortschritte in der modernen Fertigung voll auszuschöpfen.
Ich habe bereits den internationalen Lizenzierungsrahmen erwähnt, den Seaborg anstrebt. Die optimale Nutzung der maritimen und der nuklearen Rahmenbedingungen kann auch die Art und Weise, wie die Nukleartechnologie eingesetzt und reguliert wird, grundlegend verändern.
Es gibt bereits eine gewisse Konkurrenz für schwimmende Reaktoren, zum Beispiel die erwähnte Akademik Lomonosov in Russland. Wie gross schätzen Sie den Markt für dieses Konzept ein?
Wenn wir uns das Ausmass der energiepolitischen Herausforderung vor Augen führen, einschliesslich der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Dekarbonisierung in Verbindung mit der Aufgabe, den Nationen auf der ganzen Welt Wohlstand und Energiesicherheit zu bringen, sehen wir viel Platz für Wettbewerber. Und je mehr, desto besser. Mehr Akteure im Bereich der schwimmenden Kernkraftwerke werden die Einführung des von uns entwickelten Errichtungs- und Genehmigungskonzepts beschleunigen. Praktisch gesehen leben etwa 40% der Weltbevölkerung in Küstengebieten, und die Küstenstädte sind auch Drehscheiben für die industrielle Produktion und den Warentransport. Aufstrebende Industriezweige wie die Herstellung sauberer maritimer Kraftstoffe werden die Nachfrage nach Stromerzeugungskapazitäten an der Küste weiter steigern. Kurzum, wir machen uns keine Sorgen um die Grösse des Marktes. Selbst unsere kühnsten Prognosen von Hunderten von CMSRs pro Jahr während der Serienproduktion werden nur ein Tropfen auf den heissen Stein sein, wenn man das Gesamtbild des globalen Energiemarktes betrachtet.
Ein weiteres Zitat von der Seaborg-Website: «Die Power Barge wird bis zu 800 MW Strom liefern können». Bezieht sich das auf die Leistung des Reaktors? Oder auf mehrere, modular kombinierte Reaktoren? Mit anderen Worten: Baut Seaborg einen kleinen, modularen Reaktor (SMR)?
Sie haben Recht, Seaborg entwickelt in der Tat ein Produkt vom Typ SMR. Unser standardisiertes Leistungsmodul wird aus zwei CMSRs bestehen, die jeweils 100 MWe liefern. Die beiden Reaktoren werden gemeinsam eine einzige Turbine antreiben, so dass die Gesamtstromleistung eines einzelnen Leistungsmoduls 200 MWe beträgt. Die Power Barge kann ihrerseits bis zu vier dieser Leistungsmodule enthalten. Das bedeutet, dass wir es mit standardisierten Einheiten mit einer Leistung zwischen 200 und 800 MWe zu tun haben. Der erzeugte Strom wird dann entweder in das Netz eingespeist oder im Rahmen von Power-to-X genutzt, z. B. zur Herstellung von Wasserstoff.
Dr. Lubomir Bures
Dr. Lubomir Bures ist Multiphysik-Spezialist beim dänischen Startup Seaborg Technologies. Er erhielt 2016 einen BSc-Abschluss in Nukleartechnik von der Tschechischen Technischen Universität in Prag, gefolgt von einem gemeinsamen MSc-Abschluss der ETH Zürich und der EPF Lausanne im Jahr 2018 und einem PhD-Abschluss in Energie von der EPF Lausanne im Jahr 2021. Seitdem arbeitet er bei Seaborg, wo er sich vor allem mit der computergestützten Modellierung und Simulation des CMSR-Systems beschäftigt. Er ist aktives Mitglied der Young Generation der Schweizerischen Gesellschaft der Kernfachleute SGK. Unter anderem hat er die Veranstaltung «Stand Up for Nuclear 2019» in Zürich mitorganisiert und die Initiative «Nuclear for Climate» an der COP25 in Madrid vertreten.
Verfasser/in
Matthias Rey, Medienverantwortlicher Nuklearforum Schweiz