Kernenergie: Europa hat längst entschieden – und die Schweiz?
Die Schweiz steht derzeit vor einer bedeutenden energiepolitischen Weichenstellung: Soll das bestehende Neubauverbot für Kernkraftwerke aufgehoben werden? Wer aktuell einen neugierigen Blick über die Landesgrenzen wirft, könnte glauben, halb Europa habe sich verabredet, der Schweiz einen Hinweis zu geben. Denn während wir noch diskutieren, ob wir überhaupt über Kernenergie diskutieren wollen, scheint der Rest Europas längst seine Entscheidung getroffen zu haben – und zwar ziemlich eindeutig pro Kernkraft.

Interessanterweise sind es nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Frankreich oder Grossbritannien, die sich mit grosser Klarheit zur Kernenergie bekennen. Selbst Länder, die man in Atomfragen eher nicht auf dem Radar hatte, präsentieren sich überraschend kernenergiefreundlich. Europa ist heute ein Kontinent, der seine nukleare Liebe neu entdeckt – oder zumindest eine freundliche Wiederannäherung wagt.
Ein paar konkrete Beispiele:
- Polen: Plant den Ausstieg aus der Kohle und den Einstieg in die Kernenergie mit dem Bau des ersten Kernkraftwerks ab 2027.
- Frankreich: Sechs neue Reaktoren sind beschlossen, acht weitere in Planung; Verlängerung der Laufzeiten bestehender Anlagen vorgesehen.
- Grossbritannien: Die britische Regierung plant, die nukleare Kapazität bis 2050 auf 24 GW zu erhöhen, was etwa 25 % des nationalen Strombedarfs decken soll. Aktuell sind zwei neue Reaktoren in Bau, zwei weitere sind geplant, und bis 2050 sollen bis zu elf neue Kernkraftwerke errichtet werden.
- Niederlande: Aktuell plant die Regierung den Bau von zwei neuen Kernkraftwerken bis 2035 und prüft die Verlängerung der Laufzeit des bestehenden Werks in Borssele über 2033 hinaus.
- Belgien: Macht den gesetzlich festgelegten Atomausstieg rückgängig und ermöglicht den Weiterbetrieb einiger Einheiten. Zudem soll der Bau neuer Reaktoren möglich sein.
- Italien: Diskutiert Jahrzehnte nach dem Ausstieg über einen Wiedereinstieg in die Kernenergie.
- Estland: Verabschiedete 2024 eine Resolution zur Nutzung von Kernenergie und prüft den Bau modularer Reaktoren.
- Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Tschechien, Ungarn: Investieren in neue Reaktoren oder verlängern die Laufzeiten bestehender Anlagen.
- Schweden: Plant bis 2045 den Bau von zehn neuen Kernreaktoren; bis 2035 sollen mindestens zwei Grossreaktoren errichtet werden. Die Regierung hat ein staatliches Finanzierungsmodell vorgeschlagen, um Investitionen in neue Kernkraftwerke zu fördern.
- Spanien: Zuletzt gab es Bestrebungen, den bis 2035 geplanten Atomausstieg in Spanien rückgängig zu machen. Mitte Februar 2025 stimmte das Unterhaus des spanischen Parlaments für einen nicht bindenden Antrag, der die Regierung auffordert, die Laufzeiten der bestehenden Kernkraftwerke weiter zu verlängern. Der Senat nahm zwei Wochen später einen ähnlichen nicht bindenden Antrag an, der von der Regierung Massnahmen verlangt, die eine Fortführung der Kernenergienutzung ermöglichen.
- Norwegen: Prüft offiziell den möglichen Einsatz von Kernenergie; das Energieministerium hat eine öffentliche Untersuchung angekündigt. Die Zustimmung zur Kernenergie in der Bevölkerung ist gestiegen. Auch die Grüne Partei zeigt sich erstmals offen für Kernenergie.
- Dänemark: Das dänische Parlament hat eine Überprüfung des seit 1985 geltenden KKW-Verbots und eines möglichen Einstiegs in Auftrag gegeben.
Natürlich bauen noch längst nicht alle diese Länder aktuell neue Kernkraftwerke. Doch dass in Europa momentan so viele Staaten gleichzeitig offen, laut und deutlich ein klares Bekenntnis zur Kernenergie abgeben, ist historisch gesehen einzigartig. Politisch und gesellschaftlich war die Kernenergie selten so populär wie heute – ein regelrechtes europäisches Kernenergie-Festival.
Dabei tanzt jedoch Deutschland aus der Reihe – mit einem Atomausstieg, der weltweit eher Kopfschütteln als Bewunderung auslöst. Die deutsche Energiewende mag zwar gut gemeint gewesen sein, aber mit ihrer paradoxen Mischung aus Kohlekraftwerken und Stromimporten aus Kernkraftwerken der Nachbarländer ist sie eher kein leuchtendes Vorbild für die Schweiz.
Liegen wirklich alle anderen Länder falsch?
Dass all die übrigen Länder, mit ganz unterschiedlichen Kulturen und politischen Ausrichtungen, plötzlich kollektiv danebenliegen sollen, erscheint doch recht unwahrscheinlich. Wenn konservative, liberale und sozialdemokratische Regierungen gleichermassen zum Schluss kommen, dass die Kernenergie für Klimaschutz und Versorgungssicherheit unverzichtbar ist – sollten wir da ausgerechnet in der Schweiz wirklich behaupten, alle anderen würden sich täuschen?
Auch aus klimapolitischer Sicht ergibt sich ein klares Bild: Europa verfolgt ehrgeizige Klimaziele, die sich derzeit offenbar nur unter Einbeziehung der Kernenergie realistisch erreichen lassen. Wenn nun der halbe Kontinent die Kernkraft wiederentdeckt, könnte es etwas eigenwillig wirken, wenn ausgerechnet die Schweiz meint, ohne Atomstrom klimapolitisch ganz vorne mitspielen zu wollen.
Und es geht noch kurioser: Sollte das aktuell heiss diskutierte Stromabkommen mit der EU tatsächlich zustande kommen, dann würde die Schweiz künftig – ausgerechnet im kalten Winter – einen Teil ihres Stroms aus europäischen Kernkraftwerken beziehen. Wir wären also gegen Kernenergie, ausser wenn sie aus dem Ausland kommt – irgendwie auch nicht gerade die glaubwürdigste Position. Vor diesem Hintergrund wirkt das Schweizer Neubauverbot zunehmend isoliert und etwas befremdlich. Die Schweiz ist bekannt für ihre Neutralität – aber energiepolitisch muss sie deswegen noch lange nicht alleine dastehen.
Die Schweiz tut also gut daran, pragmatisch zu denken und offen zu sein: Wenn sich der gesamte europäische Freundeskreis entschlossen Richtung Kernenergie aufmacht, sollten wir zumindest ernsthaft überlegen, ob wir uns diesem Trend wirklich verweigern wollen oder die Option Kernenergie für die Zukunft zumindest offen zu halten. Die Alternative wäre, energiepolitisch isoliert auf unserer kleinen «Atomverbot-Insel» sitzen zu bleiben, während Europa längst in eine andere Zukunft fährt.
Fazit: Es ist höchste Zeit, das Neubauverbot aufzuheben – mit Ernsthaftigkeit und vielleicht sogar mit etwas typisch schweizerischem Pragmatismus. Europa geht voran – warum nicht einfach mal mitgehen?
Verfasser/in
Stefan Diepenbrock, Leiter Kommunikation, Nuklearforum Schweiz